[Von Sergej Lawrow, Außenminister der Russischen Föderation ] In den nach dem Ende des Kalten Kriegs vorübergegangenen anderthalb Jahrzehnten hat sich die Welt unweigerlich verändert. Zu einem großen positiven Faktor dieser Veränderungen wurde das neue und immer stärker werdende Russland, das eine offene und berechenbare Politik betreibt, der verständliche nationale Interessen zu Grunde liegen.
Der Rückgang der Blockdisziplin, die stärker werdende Tendenz einer Demokratisierung in den internationalen Beziehungen und die zunehmende Einsicht in die Gemeinsamkeiten aller Staaten angesichts der neuen Herausforderungen und Bedrohungen wirken sich positiv auf die Weltpolitik aus. Die kritische Masse dieser Veränderungen nimmt zwar zu, zu einem Durchbruch bei der Herstellung von Abläufen zur Gewährleistung der Sicherheit und Stabilität, die den Anforderungen der Zeit entsprechen würden, ist es aber noch nicht gekommen.
Die Globalisierung bringt die Menschheit auf eine neue Zivilisationsstufe, sie verursacht aber auch ernsthafte Nachteile für viele Länder. Daraus ergibt sich unter anderem der innere Widerspruch der entstehenden Situation. Sie lässt sich vorerst in vieler Hinsicht deshalb nicht überwinden, weil sich die Übergangsphase nach dem Kalten Krieg in die Länge gezogen hat. Sie zeichnet sich – wohl von der Angst vor der unbekannten Zukunft geprägt – durch Versuche aus, sich an das Alte festzuklammern. Ich meine damit Rückfälle in die von den Blöcken diktierte Politik, in der der instinktive Hang zu vereinfachten, gewaltsamen Lösungen der bestehenden Probleme betrieben wird. Auch das Bestreben, die Industrieländer mit Hilfe einer ideologisierten Vorgehensweise von den internationalen Angelegenheiten aus der globalen Konkurrenz rauszuhalten, während alles, einschließlich der Entwicklungsmodelle und der Orientierungspunkte in Wertesystemen, zum Gegenstand der Konkurrenz wird, gehören dazu.
Dennoch zeichnen sich die Umrisse einer neuen Weltordnung immer deutlicher ab, indem eine überwältigende Mehrheit der Staaten die Stärkung der gemeinsamen Elemente in der internationalen Politik, die Lösung der vor der Menschheit entstehenden Probleme auf den Wegen einer multilateralen Diplomatie und die Garantie des Völkerrechts wählt. Diese Tendenz scheint objektiv und logisch, weil sie die Realitäten der entstehenden multilateralen Architektur der internationalen Beziehungen widerspiegelt und die einzig effektive, kollektive Antwort auf die Herausforderungen und Bedrohungen bietet.
Davon ausgehend, wird eine umfassende Festigung der zentralen Rolle der UNO in allen Lebensbereichen in der Welt und die weitere Anpassung der Weltorganisation an die neuen Realitäten zu einer bedingungslosen Priorität der internationalen Völkergemeinschaft. Zur Entwicklung der Fähigkeiten für gemeinsame Handlungen auf dem internationalen Parkett trägt eine Erweiterung der Zusammenarbeit der G8 mit anderen führenden Ländern und die gemeinsame Arbeitsaufnahme zur Realisierung der G8-Beschlüsse bei. Die Bedeutung der regionalen Organisationen nimmt stetig zu.
Russland ist bereit, mit allen Staaten und multilateralen Strukturen im gesamten Spektrum der gemeinsamen Probleme zusammenzuarbeiten, sei das im euroatlantischen Raum oder in anderen Regionen. Neben den Bedrohungen des internationalen Terrorismus, der organisierten Kriminalität, des Rauschgifthandels und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen gilt das auch für die Lösung von Aufgaben wie die Verringerung von Konfrontationen in den internationalen Angelegenheiten und der Rolle der Gewalt, die diese Konfrontationen nachspeist, wie auch die Überwindung des Stillstands in der Abrüstung.
In den Mittelpunkt der internationalen Tagesordnung rücken Fragen zur Aufrechterhaltung der Einigkeit zwischen einzelnen Kulturen. In vieler Hinsicht hat das ebenfalls mit der Globalisierung zu tun, die die nationalen Eigenarten und die Vielfalt der Kulturen und Zivilisationen der Welt herausfordert.
Besonders deutlich lassen sich die Widersprüche zwischen den Kulturen in der Reaktion auf das wachsende Entwicklungsgefälle dieser oder jener Regionen, im Streben, alle über einen Kamm zu scheren und Veränderungen außerhalb der eigenen Grenzen zu betreiben, erkennen, wobei die nicht geregelten Konflikte, insbesondere im Nahen Osten, ignoriert werden. Berücksichtigt werden muss auch, dass die grundlegenden demokratischen Werte zwar einen universellen Charakter haben, aber in einem jeden Land auf eigene Weise und unter Berücksichtigung der nationalen Sitten und Kultur realisiert werden.
Wir sind fest davon überzeugt, dass die Terroristen weder Nationalität noch Religion haben. Kategorisch unannehmbar sind beliebige Versuche, die den Begriff „Islamischer Terrorismus“ in Umlauf bringen wollen. Europa hat eine viel zu reiche Geschichte sowie komplexe und vielfältige Erfahrungen und sollte sich deshalb nicht der Versuchung durch eine Vereinfachung der heutigen Welt erliegen. Erforderlich sind Taktgefühl, Geduld und Toleranz. Besonders deshalb, weil die Gespenster der Vergangenheit – Nationalismus und Glaube an die eigene Unfehlbarkeit – immer wieder auch auf unserem Kontinent uns erinnern lassen.
Den Terroristen aller Couleurs kann die Menschheit nur durch einen Zusammenschluss ihrer Bemühungen effektiv entgegenwirken. Eine gemeinsame Arbeit erfordert auch die Entwicklung des Völkerrechts für die Lösung dieser Aufgabe. Einen wichtigen Beitrag zur Festigung der Rechtsbasis der Antiterror-Koalition leistet die vor kurzem einhellig angenommene globale Antiterror-Strategie der UNO. Als nächstes kommt die Abstimmung einer umfassenden Antiterror-Konvention.
Unter den einzelnen Problemen, denen die internationale Völkergemeinschaft vorrangig Aufmerksamkeit widmet, muss ich das iranische Nuklearprogramm nennen. Unser prinzipieller Standpunkt besteht darin, dass es ausschließlich mit politisch-diplomatischen Mitteln gelöst werden muss. Wichtig ist, dass sich auch die anderen Verhandlungsteilnehmer für eine diplomatische Lösung aussprechen. Im Rahmen der „Sechs“ wurde eindeutig bekräftigt, dass unser gemeinsames Ziel darin besteht, die Unerschütterlichkeit des Non-Proliferation-Modus zu bestätigen. Wir sind auch damit einverstanden, dass alle Fragen hinsichtlich des iranischen Nuklearprogramms auf professioneller Grundlage und unter IAEO-Beteiligung geregelt werden müssen, und dass Iran das Recht hat, neben anderen interessierten Staaten an der Nutzung der Atomenergie für zivile Zwecke in Übereinstimmung mit dem Atomwaffensperrvertrag und den IAEO-Regeln gleichberechtigt teilzunehmen.
Gemeinsam mit unseren Partnern unternehmen wir alles von uns Abhängige, um entsprechende Verhandlungen möglichst schnell aufzunehmen.
Was unsere zukünftige Zusammenarbeit mit Iran beim Bau des Atomkraftwerks Bushehr angeht, so ist sie transparent und erfolgt in strikter Übereinstimmung mit dem Atomwaffensperrvertrag und den IAEO-Beschlüssen.
Allgemein möchte ich betonen, dass wir offen handeln, die entstehenden Meinungsunterschiede nicht verhehlen und bereit sind, jede Frage zu erörtern. Wir sehen ein, dass die von Russland erlangte außenpolitische Unabhängigkeit nicht allen passt. Daran muss man sich gewöhnen. Wir dramatisieren die Situation nicht und sind zu einer transparenten und fairen Konkurrenz bereit, sei das in Politik oder Wirtschaft. Wir werden unsere nationalen Interessen auch in Zukunft selbst formulieren. Dabei werden wir nur auf der Grundlage der Gleichberechtigung, der gegenseitigen Berücksichtigung von Interessen und des beiderseitigen Vorteils zusammenarbeiten, was mit der öffentlichen Meinung in unserem Land voll im Einklang steht.
Nicht nur in Russland, auch im Westen ist man sich dessen völlig bewusst, dass es heute zwischen uns viel mehr Gemeinsamkeiten gibt als Merkmale, die uns voneinander trennen. Übrigens: Eine zeitgemäße Definition des Begriffs „Westen“ muss noch gefunden werden. Das weltweite Netz der Möglichkeiten und der Herausforderungen für die Sicherheit und Stabilität lässt keinen Platz für nationalen Egoismus und kulturbedingte Ausschließlichkeit übrig. Eine Option der weiteren Entwicklung unserer Partnerschaft ist die zunehmende positive Wechselbeziehung der Staaten in der sich globalisierenden Welt.
Das gilt in vollem Maße auch für die russisch-deutschen Beziehungen. Russland und Deutschland sind von der Entschlossenheit vereint, ihren Beitrag zur gemeinsamen Sache der Bildung einer neuen, sichereren und gerechteren Weltordnung zu leisten. Wir sind Verbündete im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Ähnlich sind die Positionen beider Länder gegenüber einem großen Teil der internationalen Probleme.
Russland als ein multinationaler und multikonfessioneller Staat mit einem großen moslemischen Anteil in der Urbevölkerung und Deutschland, das viele Einwohner mit islamischer Abstammung hat, unterstützen die Initiativen zur Entwicklung eines interkulturellen Dialogs und einer Partnerschaft, einschließlich der von der UNO gebilligten Idee der Zivilisationsallianz. Beide Länder empfinden Genugtuung über die langfristige und vielfältige bilaterale Zusammenarbeit und wollen zu deren Entwicklung aktiv beitragen.
Wir hoffen auf ein intensives Zusammenwirken mit dem deutschen EU-Vorsitz in der ersten Hälfte kommenden Jahres. Wir haben entsprechende Konsultationen vereinbart. Uns imponieren die Pläne Deutschlands zu einer engeren Integration mit Russland. Eine Hauptaufgabe der gemeinsamen Arbeit besteht dabei in der Vorbereitung einer neuen vertragsrechtlichen Grundlage für die Beziehungen mit der EU, die das am 1. Dezember 2007 ablaufende Partnerschafts- und Kooperationsabkommen ablösen soll. Unser gemeinsames Ziel besteht darin, die Partnerschaft zu festigen, zwischenmenschliche Kontakte zu erleichtern, Bedingungen für eine wirtschaftliche Integration und für gegenseitig vorteilhafte wirtschaftliche Aktivitäten sowie für die Realisierung gemeinsamer Infrastrukturprojekte im Verkehrswesen und in anderen Bereichen zu schaffen. Dazu soll eine umfassende Umsetzung der „Straßenkarten“ zur Bildung der vier gemeinsamen Räume beitragen. Wir werden weiterhin den Verlauf der gemeinsamen Erklärung zur EU-Erweiterung und die Beziehungen zwischen Russland und der EU verfolgen, die am 27. April 2004 in Luxemburg angenommen wurde. Dabei in erster Linie auf die Gewährleistung der Menschenrechte und der Rechte der nationalen Minderheiten in Lettland und Estland wie auch auf die Regelung technischer Fragen des Kaliningrader Gütertransits achten.
Wir rechnen mit einer ebenso produktiven Zusammenarbeit bei der Übergabe des G8-Vorsitzes an Deutschland. Wir sehen unsere gemeinsame Aufgabe darin, eine Kontinuität in der Arbeit der G8 und eine weitere Durchsetzung der beim G8-Gipfel in Sankt Petersburg beschlossenen Initiativen zu gewährleisten. Unter anderem in solch vorrangigen Bereichen wie Energiesicherheit, Entwicklung des Bildungswesens und Kampf gegen Infektionskrankheiten. Dies würde im Interesse beider Länder liegen, weil die Hauptthemen unseres Vorsitzes weiterhin nicht nur für die G8-Länder, sondern auch für die russisch-deutschen Beziehungen und für die ganze Welt in vollem Maße aktuell bleiben.