Von Jens Siegert. Noch im April gab es kremloffiziell keine Zivilgesellschaft in Russland. Auf die von deutschen TeilnehmerInnen beim Petersburger Dialog oft gestellte Frage, warum den keine russischen Nichtregierungsorganisationen (NGO) geladen seien, wo es doch um einen „Dialog der Zivilgesellschaften“ gehe, antwortete Gleb Pawlowskij, einer der wichtigsten Drahtzieher hinter den Kremlkulissen, wörtlich: „Es gibt keine Zivilgesellschaft in Russland“. Kurz darauf schon hatte sich das auf wundersame Weise geändert.
Im Mai wurde Pläne für ein Treffen Präsident Putins mit „Vertretern der Zivilgesellschaft“ bekannt. Das Ereignis fand am 12. Juni, dem früheren Unabhängigkeitstag, im Kreml statt. geladen waren 30 handverlesene VertreterInnen so bedeutender NGOs, wie der Internationalen Sportakademie oder der putintreuen Jugendorganisation „Gemeinsam Schreitende“.
Es gab vor dem Treffen auch Gespräche mit anderen NGO, so der Moskauer Helsinki Gruppe, der Konföderation der Verbraucherschutzgesellschaften (KonfOP) oder Memorial, die in der in der Narodnaja Assambleja (NA) zusammengeschlossen sind. Die NA ist eine Gruppe von NGOs mit großen Netzwerken im ganzen Land.
Zu den Gesprächen im Kreml wurde KonfOP-Präsident Alexander Ausan geladen. Ausan betonte bei diesen Verhandlungen immer wieder, man würde gerne teilnehmen, doch ließe man sich nicht in „gute“ und „schlechte“ aufteilen. Stein des Antoßes war allem Anschein nach immer wieder Memorial. Die Anwesenheit eines Vertreters dieser den Einsatz der russichen Truppen in Tschetschenien scharf kritisierenden Menschenrechtsorganisation wollten die Kremlbeamten ihrem Chef wohl nicht zumuten.
Als Resultat blieben all jene draußen, die von Mitgliedern der NA vorgeschlagen worden waren. Im Rückblick ist nicht auszuschließen, dass diese Gespräche dazu gedient haben, eine Art „Schwarze Liste“ zu erstellen. Auf dem Treffen im Kreml am 12. Juni wurde erstmals öffentlich die Idee eines Bürgerkongresses im Herbst propagiert. Die anwesenden NGO-Vertreter luden den Präsidenten ein und Putin versprach, nicht nur zu kommen, sondern gleich eine Grundsatzrede zu halten.
Etwa zu dieser Zeit begannen Angriffe in staatskontrollierten Medien, so zum Beispiel bei RIA-Novosti und der Pawlowskij-Internetzeitung Strana.ru auf Memorial und andere „unbotmäßige“ NGO. Der Tenor war, unabhängig davon was der konkrete Vorwurf war, immer der gleiche: Es gebe „gute“ NGO, soll heißen „konstruktive“ und es gebe eben „schlechte“, die nicht an einem „konstruktiven Dialog mit dem Staat“ interessiert seien. Diese NGO, so Pawlowskij selbst, hätten nicht verstanden, dass mit dem Putin eine „neue Zeit in Russland begonnen“ habe.
Memorial, so hieß es mehrfach ausdrücklich, sei nicht in der Lage seinen alten „Dissidentenhabitus“ abzulegen, oder wolle das nicht. Die Menschenrechtler kämpften weiter gegen „Staat und Gesellschaft“. Auch die Finanzierung vieler NGO durch ausländische Stiftungen wurde erneut zu einem Vorwurf. So etwas sei heute nicht mehr „anständig“. Einige NGO-Führer wurden von Gleb Pawlowskij als „NGO-Oligarchen“ bezeichnet.
In der NA wurde Anfang des Sommers vor allem befürchtet, dass die Initiatoren des „Bürgerkongresses“ gemeinsam mit der Kremladministration auf dem Forum eine Art „Vertretung der russischen Zivilgesellschaft“ ausrufen könnten. Entsprechende Pläne waren zuvor publiziert worden. Diese Vertretung könne sich dann als „legitimiert“ betrachten, für alle russischen NGO zu sprechen, mit dem Präsidenten in einen „Dialog“ zu treten und Verabredungen zu treffen.
Das könne dazu führen, so die NA-Analyse, dass in den Augen vieler Menschen in Russland alle nicht zu diesem erlauchten Kreis gehörenden und sich den dort getroffenen Verabredungen nicht beugenden NGO delegitimiert werden. Diese Gefahr wurde vor allem für die Arbeit in den Regionen sehr ernst gesehen, da man dort oft konkret mit staatlichen Stellen zusammen arbeite und auch auf diese Zusammenarbeit angewiesen sei. Kaum ein Bürgermeister oder Gouverneur würde es dann aber noch wagen mit den „nicht dazugehörenden“ zu kooperieren.
Als Folge dieser Analyse beschloss die NA, zu versuchen, auf die inzwischen schon von einem „Bürgerkongress“ zu einem „Bürgerforum“ mutierte Veranstaltung Einfluss zu nehmen. Dabei halfen zwei Umstände. Erstens gab und gibt es Widersprüche auch im Präsidentenapparat. Gleb Pawlowskij steht stellvertretend für eine Gruppe Polittechnologen, die mit Putin dort eingezogen sind und in Konkurrenz mit althergebrachten „Karrierebeamten“ stehen. Zweitens gibt es in der Regierung durchaus Interesse an konkreter Zusammenarbeit mit den NGO.
So kam Anfang August ein Besuch von Wladislaw Surkow, für Innenpolitik zuständiger stellvertretender Chef der Präsidentenadministration bei Memorial zustande. Die NTW-Nachrichten berichteten landesweit über dieses Gespräch Surkows mit Vertretern der NA. Das Signal wurde verstanden. Zumindest ein Teil des Kreml wollte die in der NA organisierten NGO mit in das Forum einbezogen sehen.
In der Folge kam es Mitte August zu einem „Dreiergipfel“ zwischen Vertretern der Präsidentenadministration, den ursprünglichen Initiatoren um Pawlowskij und der NA, bei dem eine Neuformierung und Drittelung des Organisationskomittees beschlossen wurde. Die inhaltliche Grundlage sah etwa wie folgt aus: Das Bürgerforum wird als Diskussionsforum begriffen, es soll keine dauerhafte Einrichtung sein. Die Formierung einer „Kammer“ oder eines anderen „Vertretungsorgans der Zivilgesellschaft“ findet nicht statt. Kriterium der Teilnahme soll nachgewiesene und langfristige Tätigkeit der jeweiligen NGO sein.
Seither wird also ein gemeinsames Bürgerforum für den 21. und 22. November im Kreml vorbereitet. Die größten Probleme sind bis zuletzt die Tagesordnung, die Themen der einzelnen Arbeitsgruppen, von denen es wohl 21 geben wird, und die Einladungsliste. Selbst am Wochenende vor dem Bürgerforum war noch nicht klar, wer würde kommen dürfen und wer nicht.
Um eine möglichst vielfältige Teilnahme sicher zu stellen, wählte eine ebenfalls gedrittelte Arbeitsgruppe einen Teil der NGO aufgrund von Bewerbungsschreiben aus. Zusätzlich konnte jedes Mitglied der Arbeitsgruppe des Organisationskomittees bis zu 20 persönliche Vorschläge machen. Das klingt kompliziert, gewährleistet aber angesichts der paritätischer Besetzung dieser Arbeitsgruppe, dass NGO aus allen denkbaren Bereichen und unterschiedlicher politischer Vorlieben vertreten sein werden.
Das Interesse am Forum auch in der Regierung ist groß. Obwohl es an und für sich unüblich ist, dass auf einer Veranstaltung neben dem Präsidenten auch der Premierminister auftritt, wird neben Wladimir Putin ebenfalls Michail Kasjanow kommen. Zahlreiche Minister haben sich für unterschiedliche Arbeitsgruppen angesagt.